Ganz Europa ist seit gestern in einer Art Schock-Starre – 51,9 Prozent der Briten haben tatsächlich für den EU-Austritt gestimmt – allen Prognosen zum Trotz. In der Süddeutschen Zeitung ist das hier zu lesen:
„Auf der imaginären Bedeutungsskala wichtiger Nationen dieser Erde hat sich Großbritannien gerade weit nach hinten katapultiert. Seltsam: Diesem Land, dem seine eigene Größe und historische Relevanz nie fremd war, scheint jeder Instinkt abhandengekommen zu sein. Ausgelöst von einem simplen, innerparteilichen Machtkampf, angereichert durch schlecht begründete Äng ste, angefeuert von Lügen und populistischen Ressentiments hat sich Großbritannien verabschiedet aus dem Konzert der Mächte und einem Experiment ausgeliefert: Wie schrumpfe ich mich in die Bedeutungslosigkeit, wie ruiniere ich meine Volkswirtschaft, wie mache ich mich zum Gespött der Welt? Die Briten haben all das mit einer einzigen Abstimmung geschafft, jenem simplen In- oder Out-Votum, das ehrlich gesagt, eine Spur zu einfach ist, um der Größe und Komplexität dieses Themas gerecht zu werden. Wieder einmal hat sich also gezeigt, dass gerade beim Thema Europa ein Funke reicht, um ein flammendes Inferno auszulösen. “
Fast alle großen deutschen Zeitungen gehen mit den Briten hart ins Gericht. So auch ein Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
„Natürlich waren die Briten noch nie die größten Freunde der Europäischen Union. Doch dass das Referendum ausgerechnet jetzt fällig wurde und dass es mit dem „Brexit“ endete, das ist kein Zufall. Und das hat nur bedingt mit der EU zu tun. In weiten Teilen der westlichen Welt herrscht Misstrauen zwischen Bevölkerung und Eliten. Um Sachargumente ging es in diesem Wahlkampf nicht immer – zumindest nicht für die Anhänger des „Brexit“. Da wurden falsche Zahlen auf den Wahlkampf-Bus geschrieben, es kursierte eine Karte mit EU-Beitrittskandidaten, auf denen sogar Irak und Syrien farblich markiert waren. Lange probierten die EU-Befürworter, dagegen mit BIP-Modellrechnungen anzukommen. Es ist ihnen zum Verhängnis geworden. So ist es nicht nur in Großbritannien. In der ganzen westlichen Welt haben Nationalisten und Populisten Zulauf. In Großbritannien wurde die „Brexit“-Kampagne besonders von den Nationalisten der „Ukip“-Partei vorangetrieben – nicht zuletzt mit dem Argument, es kämen wegen der EU zu viele Ausländer ins Land. In Deutschland wächst der Zulauf für die AfD, und in den Vereinigten Staaten ist es vielen Wählern völlig egal, ob Donald Trumps Fakten auch nur annähernd stimmen, solange er nur ihrer gefühlten Wahrheit nahekommt.“
Der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Nikolaus Blome, hat sich zum Brexit ebenfalls Gedanken gemacht.
„Also doch: Die Briten sind irre. Sie haben mit Mehrheit beschlossen, die Europäische Union zu verlassen und sich damit allesamt selbst in den Kopf zu schießen. Soll man vor Verblüffung lachen? Oder weinen, weil kein Land in Europa ohne Schaden bleiben wird? Leider letzteres. Es ist ein schwarzer Tag für Europa! Denn klar ist am Morgen danach: Der Brexit ist nicht Sache der Briten allein. Warum war ein reiches, pragmatisches Land bereit, sich in weltfremden Insel-Isolationismus zurückzuziehen? Was ist so fürchterlich schief gelaufen, dass eine Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft wie Europa so wenig Strahlkraft ausübt, so wenig Sex-Appeal – und es einigen Demagogen deshalb gelingt, mit Halbwahrheiten, Lügen und Fremdenhass eine Mehrheit der Wähler gegen diese einst so große Idee aufzubringen? Das müssen sich alle fragen. Antworten hat niemand.“