Sitzungssaal oder Bühne? – Die Presseschau

Auch diese Woche kommt nicht ohne Brexit-Kommentare aus. Ein Autor der Süddeutschen Zeitung beschäftigt sich mit dem zurücktretenden UKIP-Vorsitzenden Nigel Farage.

Presseschau

„Mit Schonung, gar mit Verständnis, durfte Nigel Farage nicht rechnen, nachdem er als Vorsitzender der EU-feindlichen Ukip-Partei zurückgetreten war. Feige, verantwortungslos, unpatriotisch – das sind die Ausdrücke, mit denen der Mann seither belegt wird; selbst aus seiner eigenen Partei gibt es Kommentare, die nicht von übertriebener Sympathie zu ihm zeugen. All diese Kommentare hören sich an, als staune man über den Schritt. Aber war der in Wahrheit nicht geradezu absehbar? War er nicht eine Folge von Selbsterkenntnis – wenn auch begleitet von der nächsten Dreistigkeit? Das Problem mit Politikern wie Nigel Farage ist weniger, dass sie keine Patrioten wären und deshalb von Bord gingen; diesen Vorwurf hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dem Briten am Dienstag gemacht. Vielmehr weist Farages Fall auf ein grundsätzliches Problem hin. Politik wird an Orten gemacht, die unterschiedlicher nicht sein könnten und auf denen jeweils sehr unterschiedliche Talente gefragt sind: auf der Bühne und im Sitzungssaal. Und derzeit haben die Bühnenmenschen übermäßig Konjunktur. Auf der Bühne braucht es die Qualitäten des Entertainers, der zuspitzt, der mitreißt, der sich inszeniert. Im Sitzungssaal hingegen braucht es die Qualitäten des Facharbeiters, der sich durch Details fräst, der seine Worte wägt und der auch zuhören kann, der weiß, wann man sich zurückzunehmen hat. Es hilft dort ungemein, wenn man eher der strukturliebende und wachsame Typ ist. Es gibt nur wenige Menschen, die im Sitzungssaal ebenso brillieren wie auf der Bühne; Populisten wollen dies nicht einmal. Nichts illustriert die Persönlichkeit von Nigel Farage so trefflich wie der Umstand, dass er sich im Brexit-Wahlkampf zwar zum Advokaten der englischen Fischer aufschwang, dass er aber zuvor als Mitglied des Fischerei-Komitees im Europäischen Parlament nur an einer von 42 Sitzungen teilgenommen hatte. Ernsthafte Politik erfordert jedoch gewisse Fertigkeiten an beiden Orten. Wer nur die Bühne beherrscht, ist mit großer Wahrscheinlichkeit jemand, der gar nicht weiß, was Ernsthaftigkeit überhaupt ist. Der Amerikaner Trump ist der derzeit wohl berühmteste Repräsentant dieses Typs.“

Der Brexit hat auch einen Ruf in der zurückliegenden Woche lauter werden lassen – den nach mehr Demokratie. Gar nicht so einfach, schreibt ein Autor der Zeit.

„Was bedeutet das: mehr Demokratie in der EU? Das Schicksal des Freihandelsabkommens Ceta zwischen der EU und Kanada zeigt dies deutlich. Noch vor wenigen Tagen hatte Kommissionspräsident Claude Juncker gesagt, Ceta sei ein „EU-only“ Vertrag. Das bedeutet, dass die europäischen Institutionen ihn zum Abschluss bringen können, ohne die Mitgliedstaaten befragen zu müssen. Wie viele Experten sagen, ist dies eine rechtlich einwandfreie Position. Sie ist auch politisch sinnvoll. Die Handelspolitik ist eine der Stärken der EU, gewissermaßen ihre Kernkompetenz. Kaum aber hatte Juncker „EU-only“ gesagt, gab es einen Aufschrei! Was? Brüssel will über etwas so Wichtiges alleine bestimmen? Das komme gar nicht infrage, schon gar nicht nach dem Brexit! Juncker gab schnell nach. Jetzt dürfen die Mitgliedstaaten über Ceta abstimmen. Der Ausgang ist mehr als ungewiss. Die Rückverlagerung der Entscheidung über Ceta in die nationalen Parlamente ist ein Zeichen eklatanter Schwäche der EU. Denn sie kommt ausgerechnet jetzt, da nach dem Brexit alle Welt auf die Union wie auf einen Kranken starrt und sich fragt, ob er sich je erholen wird. Russlands Putin freut sich gewiss über diese Selbstschwächung der EU, in Washington wird man sich über die europäische Kakophonie noch mehr Sorgen als ohnehin machen, Pekings Führung wird sich in seiner Haltung bestätigt fühlen: „Die EU? Kann man nicht ernst nehmen.“ Die EU ist drauf und dran, sich als geopolitischer Akteur selbst aus dem Spiel zu nehmen – durch den Druck aus den Nationalstaaten. Aber war das nicht trotzdem ein Sieg der Demokratie über die Brüsseler Bürokraten? Nein, das war es nicht. Denn Ceta brauchte auch im „EU-only“ Verfahren die Zustimmung des europäischen Parlaments, immerhin eine einwandfreie, europaweit demokratisch legitimierte Institution.“